Nachruf auf Peter Bartl

In seinem 84. Lebensjahr ist in München Peter Bartl gestorben. Mit ihm verliert die historische Balkanforschung einen Vertreter, dessen Werk Bestand haben wird.
1938 in Cottbus geboren, kam Peter Bartl in die Bundesrepublik, um dort als Wissenschaftler ein Leben in einer freien Gesellschaft führen zu können. Geprägt wurde er von seinem Münchner Lehrer Georg Stadtmüller, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität München die Ost- und Südosteuropaforschung zügig ausbaute. Bartl hatte sich ursprünglich besonders für Zentralasien, besonders Afghanistan, interessiert. Es war Stadtmüller, der ihn dazu bewog, sich mit jenem Thema auseinanderzusetzen, das ihn ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte: den albanischen Raum im westlichen Balkan und im Mittelmeer.
Peter Bartl legte im Laufe der Jahrzehnte grundlegende Werke vor, die der historischen Albanienforschung die Richtung wiesen. Schon seine Dissertation zu den albanischen Muslimen zur Zeit der nationalen Unabhängigkeitsbewegung (1878-1912) (Wiesbaden 1968) kennzeichnet Grundzüge seines Schaffens: eine von Modeströmungen gänzlich unabhängige Themenwahl und eine umfassende Beherrschung des Materials. Auch die Habilitation, die sich den Aufstandsbewegungen im osmanischen Westbalkan um 1600 widmete, griff ein Thema auf, das jüngst im Zuge kulturwissenschaftlicher Arbeiten zum östlichen Mittelmeerraum wieder im Schwange ist. Nicht umsonst hat Noel Malcolm in seinem großen Buch „Agents of Empire“ Bartl als Doyen der historisch arbeitenden Albanienforscher hohe Anerkennung gezollt. Das Buch spannt die Handlung auf vom spanischen Weltreich bis zu den Osmanen, es bietet Regionalgeschichte im imperialen Zusammenhang. Zudem liest es sich fast wie ein historischer Roman – Bartls Beschäftigung mit Maria Bellonci, die dasselbe Quellenmaterial für ihre „Segreti dei Gonzaga“ verwendet hat, lässt sich hier erahnen.
In der Habilitation zeichnete sich ein zentrales Element von Bartls Zugang zur albanischen Geschichte ab: die Erschließung des reichen italienischen, vor allem römischen, Archivmaterials zur albanischen Geschichte. Bartl erkannte dessen Wert, und er legte Editionen vor, als dies in der deutschen Geschichtsforschung fast schon als karriereschädigend galt: zu nennen sind hier die „Quellen und Materialien zur albanischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert“, 2 Bände (1975-1979), vor allem aber sein Alterswerk, die in fünf gewichtigen Bänden edierten, umfassend kommentierten und mit Indices erschlossenen Berichte der Propaganda fide zum albanischen Raum, die „Albania sacra“ (2007-2021). Damit hat Bartl im Alleingang, ohne ein Forschungsprojekt im Rücken, eine der wichtigsten Quelleneditionen zur älteren Geschichte des Balkans vorgelegt, bei deren Erarbeitung ihn seine Frau und sein Sohn maßgeblich unterstützt haben. Aus Bartls Feder stammen auch eine Geschichte Jugoslawiens („Grundzüge der Geschichte Jugoslawiens“, 1985) und eine mehrfach übersetzte Geschichte Albaniens (1995).
Letzteres Werk steht stellvertretend für Bartls Stil als Historiker: klar, genau, schnörkellos, flüssig, eine angenehm zu lesende Prosa, ein klar komponiertes Werk. Diese Gesamtdarstellungen stützten sich auf eine Fülle von Einzelstudien, von denen zahlreiche kürzlich von Robert Elsie und Bardhyl Demiraj in einem eigenen Band (Die Albaner in der europäischen Geschichte, 2016) herausgegeben und damit leichter zugänglich gemacht wurden. Es zeigt sich dabei die ganze Spannweite von Bartls Interessen: vom Mittelalter bis zur spätosmanischen Zeit. Hervorzuheben sind seine quellengestützten Untersuchungen zu den albanischen Stämmen und Kleinregionen, so den Mirditen und der Himara; seine Forschungen zur Geschichte der katholischen Kirche und der Italo-Albaner.
Bartl beschäftigte sich mit dem 17. und 18. Jahrhundert, als die meisten Südosteuropaforscher der Meinung waren, allein die Zeitgeschichte sei von wissenschaftlichem Wert. Man kann sich kaum einen antizyklischeren Historiker vorstellen als Peter Bartl: eigenständig in der Themenwahl, jeder an deutschen Universitäten so gern und pfauenhaft betriebenen Theoriedebatte abhold, schuf er ein klar konturiertes Werk. Wichtige Themen – Islam und Nationsbildung; Religionsgeschichte; Akteure und „agencies“ im frühneuzeitlichen Ostmittelmeerraum – hat er in Pionierarbeit erschlossen. Seine albanische Geschichte gehört zum Besten, was zum Thema geschrieben worden ist. Seine Editionen werden benützt werden, wenn manch hastig geschriebener Aufsatz, der einen nächsten „turn“ mit entsprechender Karrierebeförderung des Verfassers einleiten sollte, längst vergessen sein wird. Bartl schuf dieses Opus ohne all das, was heute die Forschungswelt ausmacht: Großprojekte, ERC „grants“, Sonderforschungsbereiche. Ein Blick auf das, was er vorgelegt hat, lässt einen doch fragen, ob eine solide Festanstellung für gute Historiker nicht mehr Früchte hervorbringt als jene Großvorhaben, an deren Budgetvolumen heute Universitäten wissenschaftliche Bedeutung ablesen wollen.
Peter Bartl war ein sehr bescheidener und unprätentiöser Mensch. Viel Zeit hat er für das verwendet, was man heute Institutionenaufbau nennt. Jahrzehntelange betreute er die Bibliothek des von ihm geleiteten Albanien-Instituts, eine wahre Schatzkammer von Geschichte und Kultur des südwestlichen Balkans, die neben Monographien auch seltene Drucke, Broschüren, Flugschriften und Zeitungen sowie Sonderdrucke umfasst, die Bartl sorgfältig aufgenommen und katalogisiert hat. Gerne gewährte er Gästen und Schülern Zugang zu diesen Schriften, die er selbst gründlich bearbeitet und ausgewertet hat. Es hat ihn hart getroffen, dass die Universität München, vertreten in der Person des Nachfolgers seines Freundes und Kollegen Edgar Hösch, diese Bibliothek so schnell wie möglich wegschaffen lassen wollte; es war dies in der Geschichte der bayerischen Osteuropaforschung ein inhaltlicher wie menschlicher Tiefpunkt. Mit Peter Bartls Einverständnis hat der Unterzeichnete die Bibliothek an die Universität München überführt und dort weiter ausgebaut. Für seine Forschungen hat Peter Bartl immer wieder Bände mit der Post aus Wien zugeschickt erhalten.
Bartl hat sich auch besonders eingesetzt für die „Albanischen Forschungen“, für die er dutzende Bände betreut hat; seine Rolle als Herausgeber nahm er dabei sehr ernst. Auch die „Münchner Zeitschrift für Balkankunde“ wurde von Bartl besonders gefördert. Diese Zeitschrift entstand im Kreis um den Verleger Rudolf Trofenik, wo bei einer guten Flasche Wein alles zusammenkam, was bei den Münchner Osteuropahistorikern, Osmanisten und Byzantinisten Rang und Namen hatte.
Peter Bartl war ein Mann der Feder, weniger des in Vorlesungen oder Seminaren gesprochenen Worts. Der informelle Austausch nach dem Seminar war ihm lieber, und so kam den Postkolloquien, vor allem aber den mit seinen Freunden Edgar Hösch und Horst Glassl durchgeführten „Wallfahrten“ zum Kloster Andechs große Bedeutung zu: bis zu sechzig und mehr Balkan- und Osteuropaforscher stiegen von Hersching aus gemeinsam auf den „heiligen Berg“ der Bayern, Viele Freundschaften, viele Buch- und Aufsatzideen sind beim gemeinsamen Wandern entstanden. Wie sehr diese akademische Gemeinschaft von der Initiative einzelner abhing, wurde nach dem Weggang der drei Professoren deutlich, als in München eine neue Zeit mit anderen Prioritäten anbrach.
Bartl selbst war ein großer Berggeher. Jeden Mittwoch war er mit Freunden unterwegs zu Gipfeln in Bayern und Tirol. Dafür waren die Samstage, wenn Ausflügler die Berge überrannten, der Arbeit gewidmet. Besucher des Instituts begegneten Bartl stets im bücherreichen Büro, wo er mit der obligaten Zigarette saß. Mittags ersetzte oft ein Glas Bier die Mahlzeit. Bartl pflegte eine Liberalität, von der die vielen Studenten der Balkangeschichte besonders profitierten. Ihnen erzählte er gerne von jenen Männern, die ihn geprägt hatten: Arshi Pipa, Ernest Koliqi und Giuseppe Valentini – letzterer, so Bartl, sei immer mit Schnupftabak und einem Fläschchen Grappa zugange gewesen und habe ihn freundschaftlich als „alte Archivmaus“ geneckt. Valentini wie Bartl gehören zu den großen Archivforschern und -editoren zu den Epochen der älteren albanischen Geschichte.
Der Zugang zum enveristischen Albanien war Bartl versperrt. Freunde und Kollegen wie Martin Camaj und Hasan Kaleshi eröffneten ihm Blicke auf die albanische Welt, die dies mehr als wettmachten. Die Freundschaft mit Ernest Koliqi und viele Reisen in den Mezzogiorno ließen Bartl zu einem der besten Kenner der italo-albanischen Kultur werden. Die Liebe zu Italien und dessen Archiven, die so überreiches Licht auf Albanien werfen, gehört ebenfalls zu den Konstanten in Bartls Leben.
Albanien selbst besuchte er recht spät. 1996 nahm er an einer großen Konferenz zum Christentum bei den Albanern teil. Bartl, der ungern flog, reiste mit Zug und Schiff bis nach Durrës. Mit der Hilfe von Einheimischen gelangte er zum Bahnhof; der Wagon nach Tirana hatte ein Loch im Boden und ruckelte langsam nach Osten. Wiederum der Unterstützung freundlicher Einheimischer verdankte es Bartl, zu seinem Hotel zu finden – die Organisatoren hatten die Angabe der Unterkunft vergessen, doch 1996 war das „Dajti“ noch die wahrscheinlichste Bleibe für ausländische Gäste.
In seiner spröden und zurückhaltenden Art fand Bartl kaum Zugang zu dem sich schnell wandelnden Land, wo er zu wenig wahrgenommen wurde. Zwar wurde er Mitglied der albanischen Akademie und auch mit Orden ausgezeichnet, da hat dies seine Rezeption kaum befördert. Seine Werke waren besonders in katholischen Kreisen bekannt, so um die Zeitschrift „Shejzat“, der er schon in Zeiten des real existierenden Enverismus eng verbunden war. Nach Bartls Tod veröffentlichte Enver Robelli, eine der wichtigsten publizistischen Stimmen des Balkans, einen Nachruf auf Bartl, der vom albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama auf Facebook geteilt wurde. Der bedeutendste Gelehrte von Kosova, Rexhep Ismajli, würdigte, ebenfalls in der „Koha ditore“ Bartls Verdienste um die Albanologie. Weitere weniger bedeutende Nachrufe folgten. Doch ist klar, dass im albanischen Balkan und in der Balkanforschung Bartls Werk wiederzuentdecken ist – dass in ihm viele Themen behandelt wurden, die heute die Forschung beschäftigen, hat dieser Nachruf zu verdeutlichen versucht.
Die historische Balkanforschung verliert einen bedeutenden Vertreter, jene, die Peter Bartl kannten, einen bescheidenen, großzügigen und humorvollen Mentor und Kollegen. Seine freundlich-trockene Stimme ist verstummt, in seiner Prosa wirkt sie nach.

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